Leseprobe: Incubus (Sommer 2016)
Die Landschaft war trostlos und schlichtweg deprimierend, anders konnte man es wahrhaftig nicht beschreiben. Soweit das Auge reichte (und das war durch die vielen dahintreibenden dichten Nebelbänke, wenn man es genau betrachtete, nicht besonders weit) erstreckte sich eine von braunem, schlammigem Morast bedeckte Sumpflandschaft, die nur hin und wieder von kleinen, mit dichtem Gestrüpp bewachsenen Erhebungen unterbrochen wurde. Der Nebel trieb in dichten, fingerähnlichen Schwaden dahin, die maximal Augenhöhe erreichten, und hinterließen in ihr ein beklemmendes Gefühl des Eingesperrtseins zwischen Wänden aus Dunst. Ihre Sichtweite war dadurch extrem eingeschränkt, und ihr Blick reichte kaum weiter als maximal 10 bis 15 Meter.
Dabei wäre es sicherlich bei hellem Sonnenschein eine ungeheuer große Ebene gewesen, denn die Sicht wurde weder durch Bäume noch durch Berge oder Häuser eingeschränkt. Die einzigen Gewächse an diesem Ort, die man mit einigem guten Willen als „Bäume“ hätte bezeichnen können, waren höchstens so groß wie ein durchschnittlich gewachsener Mann, und sie fanden sich nur recht spärlich auf den kleinen grasbewachsenen Hügeln, die ab und an Inseln inmitten des Morasts bildeten. Nur auf diesen Erhebungen konnte man sorglos sicheren Fußes gehen, wie sie wusste, ansonsten war der gesamte Boden trügerisch und konnte jederzeit zu einer tödlichen Falle werden, wenn man den Fehler beging, nicht genau aufzupassen, wohin man seine Schritte lenkte.
Der Himmel wurde vollkommen von Hochnebel bedeckt, nur ab und an konnte sie die untergehende Sonne als blasse, verwaschene Scheibe im Westen ausmachen, wenn die dichten Schleier sich kurzfristig lichteten. Durch den Dunst brachen sich die Sonnenstrahlen und tauchten den gesamten Himmel in schleierartiges blutrotes Licht. Die Sonne lag allerdings bereits zu tief, um die Szenerie wirklich zu erhellen – die Landschaft wurde bestenfalls noch von verblassendem Dämmerlicht erfüllt, das vor allem die länger werdenden Schatten tiefer und bedrohlicher erscheinen ließ.
Sie fror erbärmlich, denn mit dem Schwinden des Sonnenlichts sank auch die Temperatur, und ihr Atem kondensierte vor ihrem Gesicht zu kleinen Dampfwölkchen. Fröstelnd kreuzte sie ihre Arme vor ihrer Brust und steckte sie schutzsuchend in ihre Achselhöhlen. Dennoch fragte sie sich, ob wirklich nur die Kälte dafür verantwortlich war. Die gesamte Umgebung vermittelte ihr ein Gefühl tiefster Beklemmung, das weitaus stärker war, als es ihr den Umständen entsprechend angebracht erschien. Und das lag nicht nur daran, dass sie sich verirrt hatte.
Sie wusste, dass ihre Furcht irgendetwas mit der untergehenden Sonne zu tun hatte, dass sie hier an diesem Ort nicht sicher war, wenn das Tageslicht gänzlich der Nacht gewichen sein würde. Woher dieses Wissen allerdings kam, war ihr nicht klar, womöglich war es einfach der Instinkt, der in dieser Situation die Oberhand über ihr logisches Denken gewonnen hatte. Noch einmal wandte sie ihren Blick nach rechts, der untergehenden Sonne entgegen. Sie hatte Glück, denn der Nebel lichtete sich für einen kurzen Moment, so dass sie die durch den Dunst unscharfen Konturen der glühenden Scheibe erkennen konnte, deren erstes Viertel bereits hinter dem Horizont versunken war. Kurz stieg ein Gefühl der Panik in ihr auf, doch sie schaffte es noch einmal mit einer bewussten Kraftanstrengung, diese zurückzudrängen. Nein, Angst und Hysterie würden ihr hier nicht weiterhelfen. Wenn sie überhaupt eine Chance haben wollte, ihr Zuhause sicher zu erreichen, musste sie überlegt an die Sache herangehen.
Da die Sonne zu ihrer Rechten unterging, war dies Westen. Also lief sie in diesem Augenblick nach Süden, was jedenfalls nicht verkehrt war, denn ihr Zuhause lag ebenfalls in dieser Richtung. Sie nickte kurz, wie um sich selbst nach außen hin Mut zu machen, und setzte sich wieder in Bewegung.
Trotz ihres Zeitdrucks ging sie langsam Schritt für Schritt, während ihr Blick konzentriert auf den morastigen Boden gerichtet war. Er bestand aus einer Mischung von braunem, fast schwarzem Schlamm, der überwiegend von Moosen und kleinen Flechten überwachsen war. Überall dazwischen befanden sich Wasserflächen, von denen einige nicht größer als ein Fußabdruck waren, während andere bereits das Ausmaß kleiner Tümpel erreichten. In den größeren Wasseransammlungen wuchsen einige vereinzelte Schilfpflanzen, die allerdings nicht grün, sondern eher schwarz und kränklich wirkten, wie von Fäule befallen. Im schwindenden Dämmerlicht wirkten sämtliche Konturen zunehmend grau und farblos, so als wollten sie mit den Schatten verschmelzen.
Mit jedem Schritt, den sie tat, sanken ihre Füße mit einem quatschenden Geräusch bis zum Knöchel in den sumpfigen Boden ein. Dadurch wurde sie zusätzlich aufgehalten, darüber hinaus verlangte es ihr einiges an Kraft ab, da sie ihre Füße jedesmal wieder herausziehen musste, während der Schlamm sich regelrecht an ihr festsaugte.
Hin und wieder hörte sie das Quaken von Fröschen, jedoch war es ziemlich weit entfernt und beinahe verhalten. Da auch kein bisschen Wind wehte, kamen ihr die Geräusche der Amphibien dennoch sehr laut und sonderbar deplatziert vor, fast wie eine Störung der Stimmung. Die Ruhe vor dem Sturm, dachte sie bei sich und schauderte. Sie verstand nicht, weshalb ihr plötzlich solch seltsame Gedanken durch den Kopf gingen, aber da war ein kleiner, aber äußerst hartnäckiger Teil in ihr, der ihr zuschrie, dass irgendetwas bald passieren würde und dass sie gut daran tat, sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Es war beinahe so, als hätte sie genau diesen Moment schon einmal erlebt, eine Art Déjà Vue, nur leider vermochte sie beim besten Willen nicht zu sagen, was als nächstes geschehen würde.
Entschlossen verscheuchte sie diese merkwürdigen Gedanken und bemühte sich, ihr Tempo ein wenig zu steigern. Das erwies sich jedoch als äußerst schwierig, denn es wurde von Mal zu Mal anstrengender, ihre Füße wieder aus dem Schlamm zu ziehen. Beinahe erschien es so, als hätte sich das Moor entschlossen, sie nicht wieder gehen zu lassen. Gehetzt warf sie erneut einen Blick auf die sinkende Sonne, dieses Mal ohne dabei stehen zu bleiben. Das stetige Quatschen, das ihre Füße beim Herausziehen aus dem Schlamm und beim wiederholten Hineinstapfen verursachten, begleitete sie dabei wie eine monotone, einschläfernde Melodie.
Von der Sonne war nur noch ein kleiner Lichtstreif am Horizont verblieben. Die Furcht, die sie bei diesem Anblick verspürte, ging weit über das Normale hinaus. Ihre Knie begannen heftig zu zittern, und hätten ihre Füße nicht im Morast gesteckt und sie damit bei der Balance unterstützt, wäre sie womöglich gestürzt. So blieb sie nur schwankend stehen und versuchte, dieses widerwärtige Gefühl von nackter Todesangst in ihr zu unterdrücken. Es war nicht logisch, sie wusste nicht einmal, wovor sie Angst hatte. Es war, als stünde in ihrem Gedächtnis eine solide Tür zwischen ihr und ihren Erinnerungen, die aber noch soviel Licht hindurch ließ, dass sie einen Teil des dahinterliegenden Raumes erkennen konnte, allerdings nur vage Umrisse, während ihr der Großteil von seinem Inhalt verborgen blieb.
Sie vertraute ihrem Gefühl, das ihr laut und eindringlich „Gefahr“ entgegen schrie, unerheblich, ob ihr der Grund hierfür nun bekannt war oder nicht. Noch nie im Leben hatte sie sich derartig gefürchtet. Die Angst verlieh ihr zusätzliche Kraft, als sie so schnell sie konnte, weiter in Richtung Süden lief. Die Anstrengung, die sie das Vorwärtskommen kostete, spürte sie kaum noch, als sie wie mechanisch ihre Füße immer wieder aus dem Schlamm zog und weiterstapfte. Das saugende nasse Geräusch, das sie verursachte, war allgegenwärtig und übertönte die Frösche vollkommen.
Noch einmal wandte sie hektisch ihr Gesicht der untergehenden Sonne entgegen. Doch sie sah nur das allerletzte Aufblitzen eines letzten Lichtstreifens durch den Nebel – und dann verschwand auch dieses. Die Nacht war hereingebrochen, und mit ihr würde auch das Etwas, vor dem sie sich fürchtete, hervorkommen. Es konnte im Sonnenlicht nicht existieren, aber mit jedem schwindenden Strahl Tageslicht wurde es mächtiger, mit jedem länger werdenden Schatten wurde die Möglichkeit, aus seinem lichtlosen Versteck hervorzukriechen, größer. Sie war hier nicht mehr sicher.
Ein durchdringendes, lautes Rufen ertönte plötzlich in ihrer Nähe. Sie schrak zusammen, und ein unterdrückter Schrei verließ ihre Kehle. Es war ein schauderhaftes Geräusch, laut und schallend wie eine Sirene, allerdings etwas melodischer. Angstschweiß perlte trotz der intensiver werdenden Kälte auf ihrer Stirn, und sie zitterte nun am ganzen Leib, während sie sich hektisch im Kreis drehte, um nach der Ursache dieses Rufes zu suchen.
Noch einmal erscholl der Schrei – eine komplexe Melodie von mehreren Sekunden Länge. Das Geräusch alleine hätte ihr bereits an einem warmen, gemütlichen Ort eine Gänsehaut bereitet. Hier in diesem trostlosen nebligen Moor ließ es etwas in ihrer Seele zu Eis erstarren. Aber so sehr ihre Augen auch suchten, sie fanden nichts außer Nebelbänken, kahlen Sträuchern und glitzernden kleinen Wasserflächen, auf denen sich das letzte Zwielicht brach.
Das Geräusch war zu melodisch, um mechanischen Ursprungs zu sein. Tatsächlich ertönte es jetzt immer wieder in Abständen zwischen 10 Sekunden oder auch mehreren Minuten, was ebenfalls gegen etwas Technisches als Ursache sprach. Mittlerweile setzte sie ihren Weg fort, zuckte jedoch noch immer jedesmal zusammen, wenn das klagende Rufen durch die Sümpfe hallte. Seetaucher, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Diese unscheinbaren Wasservögel konnten Laute erzeugen, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen, das wusste sie. Und ihr Ruf war so laut, dass die Tiere noch sehr weit entfernt sein konnten. Möglicherweise erzeugte das Wasser auch ein leichtes Echo. Es sind nur Seetaucher, sagte sie sich immer und immer wieder, wenn die klagenden Töne sie schaudern ließen.
Inzwischen war es fast vollständig dunkel geworden, die Farben verblassten allesamt zu einem trostlosen Grau. Die Konturen der Sträucher und Erhebungen verschmolzen miteinander und mit den Schatten. Die Landschaft hatte sich leicht verändert, sie war in den letzten Minuten stetig bergauf gegangen, der Boden war insgesamt etwas stabiler und trockener, was jedoch nur bedeutete, dass sie nur noch bei jedem zweiten Schritt bis auf den Knöchel in den Schlamm einsank. Dadurch konnte sie ihr Tempo noch ein klein wenig steigern, sie rannte beinahe. Sie rannte um ihr Leben, das wusste sie. Und es war nur noch ein Rest eiserner Selbstbeherrschung, der sie zwang, nicht noch schneller zu rennen, weil sie sonst auf dem unebenen Boden längst das Gleichgewicht verloren hätte.
Sie erblickte die ersten kleinen Bäume, knapp größer als sie selbst, die in kleinen Grüppchen zusammenstanden und ihre kahlen Äste gen Himmel reckten. Ihre Silhouetten sahen aus wie dürre, knöcherne Arme, die nach ihr zu greifen versuchten. Obwohl sie ahnte, dass nur ihre Phantasie mit ihr durchging, achtete sie dennoch darauf, ihnen nicht allzu nahe zu kommen. Die Rufe der Seetaucher schienen sie durch dieses unheimliche Land zu treiben. Sie war vollkommen außer Atem und bekam durch das Einatmen der kalten Luft nun auch heftiges Seitenstechen, jedoch waren diese kleinen Unannehmlichkeiten nichts im Vergleich zu ihrer rasenden Angst.
Wenn das Klagen für einige Augenblicke erstarb, hörte sie stets die quatschenden Geräusche, die ihre Füße im Morast verursachten. Mit einem Male erschien es ihr deutlich lauter als zuvor zu sein. Erschrocken verhielt sie im Schritt und versuchte, in der Dunkelheit zu ihren Füßen etwas zu erkennen. Womöglich war der Weg noch unsicherer geworden, der Morast noch schlammiger, so dass sie nun tiefer einsank und deshalb lautere Geräusche von sich gab.
Das Geräusch war weiterhin zu hören. Es war ein rhythmisches Quatschen und Platschen, so wie ihre eigenen Schritte im Schlamm, von der Ausnahme abgesehen, dass es nicht ihre eigenen Schritte sein konnten. Denn sie stand stocksteif da und bewegte sich nicht einmal um einen Hauch. Das Geräusch war aber zweifellos vorhanden. Quatsch, quatsch. Ganz ruhig, ganz gleichmäßig. Und eindeutig näher kommend.
Sie gab nur ein klägliches Wimmern von sich, das sie sofort unterdrückte, aber anscheinend war es schon zu spät. Für einen Moment verhielt das Geräusch, einen langen, bitteren Augenblick, währenddessen sie betete, sie habe es sich bloß eingebildet. Dann erklang es erneut, schneller diesmal, und irgendwie zielstrebiger, aggressiver. Wer da auch immer hinter ihr herlief – er (oder es?) hatte sie gehört und sie anscheinend als Ziel auserkoren.
Die Angst, die sie verspürte, war schon nicht mehr menschlich. So schnell sie konnte, drehte sie sich um und rannte weiter, nur weiter, egal wohin, nur fort von hier. Den Boden und seine Tücken ignorierte sie nun vollkommen – sie rannte, wie sie noch nie in ihrem Leben gerannt war. Oder zumindest versuchte sie es. Der Morast schien sich jetzt mit einer Intensität an ihr festzuklammern, als würde er alles daran setzen, sein Opfer nicht mehr preiszugeben. Es war, als wenn die Natur selbst sich gegen sie verschworen hätte.
Die Schritte hinter ihr erklangen oft vollkommen synchron, so dass sie in manchen bangen Augenblicken immer wieder meinte, nur ein Echo ihrer eigenen zu hören. Quatsch, quatsch. Ein ruhiger, gleichmäßiger Rhythmus, als wenn der Urheber noch Stunden so weiterlaufen könnte, ohne zu ermüden. Er schien es nicht eilig zu haben, zumindest holte er nicht auf. Aber sie konnte den Abstand zu ihrem Verfolger auch nicht vergrößern, bemerkte sie verzweifelt, denn was sie auch tat, er schien sich immer in der gleichen Entfernung von ihr zu befinden. Mit dem kleinen, aber beträchtlichen Unterschied, dass sie selbst sehr wohl ermüdete. Längst waren ihre Schritte nicht mehr so ruhig und trittsicher wie am Anfang. Immer wieder strauchelte sie jetzt, wenn sie, vor Erschöpfung zitternd, ihren Fuß im falschen Winkel in den Schlamm setzte. Und immer, wenn das geschah, holte ihr Verfolger auf. Erst geschah es fast unmerklich, aber nach einer kleinen Weile waren die Schritte hinter ihr schon erheblich lauter und deutlicher geworden. Für ein Echo konnte man sie nun bestimmt nicht mehr halten.
Tränen der Erschöpfung und der Verzweiflung rannen über ihre Wangen. Sie tat ihr Bestes, sie spornte ihren Körper zu Höchstleistungen an, und alles, was ihr das einbrachte, war eine weitere kleine Weile, die sie noch einen Vorsprung vor ihrem Verfolger hatte. Wenn er tatsächlich nicht ermüdete, hatte sie nicht den Hauch einer Chance, musste sie feststellen. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, einfach stehenzubleiben und sich ihm zu stellen, denn das Wissen, wer sich auf ihrer Spur befand, war sicherlich befreiender als gegen ihre Phantasie und einen Haufen zum Leben erwachter Dunkelheit zu kämpfen. Nein, das kam nicht in Frage. Eben, weil sie mit unerschütterlicher Logik wusste, dass diese Denkweise hierbei nicht zutreffen würde. Das, was sie verfolgte, war so entsetzlich, dass sie auf der Stelle den Verstand verlieren würde, wenn sie ihm ins Gesicht sah. Sie durfte es nicht ansehen. Um keinen Preis.
Noch einmal zog sie all ihre letzten Kraftreserven zusammen und lief eine kleine Anhöhe hinauf – eine jener Erhebungen, die sich überall durch den Sumpf zogen. Zumindest war der Boden nicht ganz so schlammig, so dass sie nicht so tief einsank, und demzufolge besser vorankam. Leider tat ihr Verfolger das auch.
Er war bestimmt keine 5 Schritte mehr hinter ihr, dennoch weigerte sie sich verbissen, sich umzudrehen und ihn anzusehen. Wenn sie diesen Fehler beging, würde er sie holen. Das Einzige, was sie jetzt noch tun konnte, war, ihn nicht anzusehen.
In der Dunkelheit vor ihr schälte sich ein gedrungener, kompakter Umriss hervor. Mittlerweile sah man kaum noch die berühmte Hand vor Augen, so dass sie nur noch ein paar Meter entfernt war, als sie es erkannte. Vor ihr stand eine Hütte. Sie war primitiv und aus rohem Holz errichtet, dennoch erschien sie ihr als das Schönste, das sie jemals im Leben gesehen hatte. Und es war ihr Zuhause, der sichere Ort, den sie von Anfang an zu erreichen versucht hatte. Jetzt war er zum Greifen nah.
Ein brennender, reißender Schmerz in ihrem Rücken schleuderte sie abrupt aus ihren Gedanken heraus und ließ sie aufschreien. Der Verfolger hatte sie eingeholt und sie mit irgendetwas geschnitten. Der Schmerz brannte heiß, aber auch unglaublich real auf ihrer Haut, realer, als ihr ihre gesamte Umgebung bisher vorgekommen war. Das Unheimlichste daran war, dass dies alles in absoluter Lautlosigkeit vonstatten gegangen war, es gab kein Knurren oder Fluchen, ja nicht einmal keuchenden Atem. Hätte sie die Schritte nicht die ganze Zeit in ihren Ohren gehabt – sie hätte schwören können, dass dort gar niemand war.
Sie unterdrückte mit aller Kraft den Impuls, ihrem Angreifer ins Gesicht zu sehen, sondern nutzte ihre gesamten allerletzten Kraftreserven, um auf die Hütte zu zu rennen. Damit hatte ihr Verfolger wohl nicht gerechnet, denn seine Schritte erklangen erst ein paar Sekunden später hinter ihr. Quatsch, quatsch. Es zerrte unbeschreiblich an ihren Nerven.
Mit einem letzten, riesengroßen Satz erreichte sie die Holztür und streckte ihre Hand nach dem Türgriff aus. Wenn sie im Inneren war, würde sie in Sicherheit sein. Ihr Verfolger konnte sie dort nicht erreichen.
Die Tür war abgeschlossen. Obwohl die gesamte Konstruktion primitiv gebaut war und in keiner Weise solide aussah, war es ihr nicht möglich, die Tür zu öffnen, so sehr sie sich auch mit ihrem ganzen Gewicht dagegen warf. Die Konstruktion hielt stand.
Die Schritte waren nun ganz nah und verhielten plötzlich genau hinter ihr. Sie verspürte nackte Todesangst, als wenn sich eine eiskalte Hand um ihren Brustkorb legen und zudrücken würde. Es war zu spät, sie hatte gekämpft und verloren. Langsam drehte sie sich um und blickte ihrem Verfolger in die Augen.